Dr. von Haunersches Kinderspital

Die Beschäftigungssituation während der NS-Zeit am Dr. von Haunerschen Kinderspital lässt sich nur schwer rekonstruieren, da die Jahresberichte für die Jahre zwischen 1933 und 1945 fehlen. Im Jahresbericht von 1932, dem letzten der vorhandenen Jahresberichte, finden sich nur mehr zwei jüdische Ärztinnen. Für beide konnte ermittelt werden, dass sie das Dr. von Haunersche Kinderspital noch vor der Machtergreifung 1933 verließen. Eine Neueinstellung verfolgter Personen wäre bereits ab dem 07.04.1933 aufgrund des “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” strafbar gewesen, weshalb es nahe liegt, dass ab 1933 keine Ärzt*innen jüdischer Abstammung im Dr. von Haunerschen Kinderspital tätig waren.

Interessanterweise waren zuvor jedoch viele Ärzt*innen am Dr. von Haunerschen Kinderspital beschäftigt, die im Sinne der NS-Gesetze jüdischer Abstammung waren und deshalb verfolgt wurden. Dabei ist dies nicht verwunderlich. Schätzungen zufolge waren nämlich über 50% aller Kinderärzt*innen um 1933 jüdischer Abstammung (Seidler 2007). Für 1933 konnte Eduard Seidler in einer umfassenden Studie 1418 Kinderärztinnen und Kinderärzte ermitteln, die im Gebiet des Deutschen Reiches ihren Beruf ausübten. Von ihnen wurden 773 von den Nationalsozialisten verfolgt – in erster Linie aus rassistischen Gründen. Noch drastischer als die absoluten Zahlen wirkt die prozentuale Angabe der Betroffenen. 54,5 % aller Kinderärzte, also mehr als jeder Zweite, hatte unter den zahlreichen Repressionen des NS-Regimes zu leiden.

Diese auffallend hohe Repräsentanz lässt Raum zu Spekulationen. Nach Stefanie Harrecker war bereits Anfang des 20. Jahrhunderts an deutschen Universitäten ein deutlicher Antisemitismus spürbar. Es wird daher vermutet, dass jüdische Ärzt*innen in der Kinderheilkunde – eine sich gerade etablierende Fachdisziplin – eine Nische sahen, die noch frei war von diskriminierenden Strukturen. Zudem bot die Pädiatrie mit der Möglichkeit sich in einer Praxis niederzulassen ein außeruniversitäres Betätigungsfeld. In ihrer Dissertation ermittelte die Ärztin Dr. Andrea Autenrieth ein Großteil der Schicksale jüdischer Ärzt*innen im Dr. von Haunerschen Kinderspital. Dabei fällt auf, dass viele von ihnen großes Engagement in sozialpädiatrischen Bereichen gezeigt haben. Die Kinderheilkunde war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch relativ neu und kämpfte in erster Linie gegen die enorm hohe Säuglingssterblichkeit an. Diese Hauptaufgabe war aber zugleich auch ein wichtiges sozialpädiatrisches Thema, da die Reduktion der Säuglingssterblichkeit eng verknüpft war mit dem Ausbau von Neugeborenenstationen und der Etablierung von Hygienestandards in der Neugeborenenmedizin. Dabei finden sich besonders unter den Pionier*innen der Sozialpädiatrie, die mit ihrer Arbeit und Forschung maßgeblich die Entwicklung dieser Disziplin vorangetrieben haben, auffallend viele jüdische Kolleg*innen. Zu nennen ist beispielsweise Arthur Schlossmann, der 1898 die erste Einrichtung für kranke Säuglinge in Dresden gründete. Oder Heinrich Finkelstein dem als ärztlichen Direktor des Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses in Berlin eine drastische Senkung der Säuglingssterblichkeitsrate im Arbeiterviertel Wedding zuzuschreiben ist. Als Grund für die hohe Repräsentanz jüdischer Kollegen wäre denkbar, dass die Sozialpädiatrie eine hauptsächlich außeruniversitäre Disziplin darstellen. Die Wirkstelle der Sozialpädiater war nicht die Universität, sondern vor allem das Gemeinwesen, wie beispielsweise Schulen, Kinderstätten und Säuglingsheime, so auch in München. Es stellt sich daher die Frage, was mit der Kinderversorgung passierte, nachdem ein Großteil der jüdischen Ärzt*innen systematisch verfolgt und vertrieben worden. Obwohl hier bereits einiges an geschichtswissenschaftlicher Aufarbeitung geschehen ist, bedarf es dennoch an einer weiteren Auseinandersetzung und Erinnerungskultur in der Medizin.

Obwohl die sogenannte „Kinderfachabteilung“ in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar keinen direkten oder strukturellen Bezug zum zum Dr. von Haunerschen Kinderspital hatte, sollten die nationalsozialistischen Verbrechen der „Kindereuthanasie“ zwischen den Jahren 1940 und 1945 in München hier dennoch Erwähnung finden. Der Begriff “Kinderfachtabteilung” wurde während der NS-Zeit als beschönigende Bezeichnung für besondere Einrichtungen Psychiatrien sowie Heil- und Pflegeanstalten verwendet, die der „Kinder-Euthanasie“ dienten, also der Forschung an und Tötung von Kindern und Jugendlichen, die körperlich oder geistig behindert waren.

Am 14. Juli 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet, welches die Sterilisation „erbbiologisch Minderwertiger“ legalisierte. Vorangetrieben wurde dieser Prozess durch eine medizinisch begründete rassenhygienische Propaganda. So fanden beispielsweise in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar sogenannte „erbbiologische Anschauungskurse“ mit Demonstration von Patient*innen mit Behinderungen statt. Diese wurden dabei als „lebensunwert“ und „verwahrlost“ dargestellt, sodass die Pflege dieser Kranken den Teilnehmern als nutzlos erscheinen musste (Schmidt, 1965). Der Psychiater und bekennender Nationalsozialist sowie Verfechter der “Rassen- und Erbbiologie” Hermann Pfannmüller leitete ab Februar 1938 die Heil- und Pflegeanstalt. Am 10. August 1939 nahm er an einer Besprechung zur Durchführung der Euthanasieaktionen teil und ließ ab Oktober 1939 1119 Patient*innen aus Eglfing-Haar erfassen, von denen 25 im Januar 1940 die ersten Opfer der Aktion T4 wurden. Zwischen dem 18. Januar 1940 und dem 20. Juni 1941 wurden 2025 Menschen über die Anstalt Eglfing-Haar in die Tötungsanstalt Grafeneck und die Tötungsanstalt Hartheim überstellt und dort ermordet. Zudem wurde ab Oktober 1940 in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar die bayernweit erste „Kinderfachabteilung“ angegliedert, wo  Hermann Pfannmüller im Rahmen der Kinder-Euthanasie 332 Kinder durch Luminal- oder Morphin-Scopolamininjektionen ermordete beziehungsweise dies veranlasste. Folgender Befund wurde von Anstaltsarzt Dr. Gustav Eidam über die damals dreijährige Therese B. niedergeschrieben:

„Fixiert nicht, kann nicht sitzen, gehen oder stehen, ist unrein, kein Sprachverständnis, keinerlei Sprachvermögen, tiefstehender Idiot, hochgradig pflegebedürftig.“

Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Ut elit tellus, luctus nec ullamcorper mattis, pulvinar dapibus leo.