Wissenschaftliche Methodik

eine kleine Einleitung in Grundsätze wissenschaftlicher Theorie und Praxis

Einleitung

Aktuell steht die Wissenschaft zentral im Fokus des öffentlichen Diskurses. Expert:innen aus den unterschiedlichsten Fachrichtungen wie der Epidemiologie, der Virologie, der Psychosomatik und Psychiatrie, sowie des Public Health Sektors diskutieren mit Politiker:innen in Podcasts, Talkshows, in Nachrichtensendungen und im Internet. Täglich werden neue Zahlen in Form von Situationsberichten rund um die Verbreitung von SARS-CoV-2 und seinen Mutationen veröffentlicht und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgestrahlt. Sei es der R-Wert (Reproduktionszahl), die 7-Tages-Inzidenz oder die aktuelle Belegung der Intensivstationen – wir kommen kaum um diese Informationen herum, die von zentralen Einrichtungen zur Krankheitsüberwachung und -prävention, wie dem Robert-Koch-Institut (RKI) oder der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) erhoben und veröffentlicht werden. Gleichzeitig scheint es eine Flut an neuen Studienergebnissen und Erkenntnissen zu COVID-19 und den Impfstoffen zu geben. Seit Beginn der Covid-Pandemie wurden bereits 101.480 neue Publikationen auf der zentralen Wissenschaftsdatenbank Pubmed veröffentlicht (Stand 10. Februar 2021).

 

Im Zentrum vieler politischer Debatten um allgemeine Maßnahmen stehen vermeintlich willkürlich festgelegte Grenzwerte epidemiologischer Zahlen. Die politischen Entscheidungen auf Bundes- und Landesebene haben dabei maßgebliche Auswirkungen auf das soziale, wirtschaftliche und öffentliche Leben und bedeuten oft weitreichende Einschränkungen unseres gewohnten Alltags. Diese Fokussierung auf einzelne Werte birgt jedoch die Gefahr den öffentlich Diskurs einzuschränken, insbesondere dann, wenn eine allgemeine Unklarheit um die Begriffsdefinition und Aussagekraft bestimmter Werte besteht. Es besteht ein großer Wunsch nach einfachen Erklärungsansätzen und Lösungswegen – doch bei der Vereinfachung komplexer Zusammenhänge gehen immer auch Inhalte verloren. Beispielsweise gilt seit der Erweiterung des Infektionsschutzgesetzes im November 2020 die 7-Tages-Inzidenz von SARS-CoV-2-Infektionen als maßgebliche Kennzahl beim Management der Covid-19-Pandemie.  Dabei wird vernachlässigt, dass niemals direkt Inzidenzzahlen, sondern lediglich Meldedaten verglichen werden. Meldeverzüge am Stichtag unterscheiden sich regional stark von unter 5% bis über 30% der Fälle und verhindern eine regionale Vergleichbarkeit [1]. Andere kritische Stimmen werfen den politischen Entscheidungsträger:innen wiederum vor, sich nicht genug nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu richten. Entsprechend emotionsgeladen und ambivalent sind viele Diskussionen um Politik und Wissenschaft – Kompetenzbereiche, deren Grenzen zu verschwimmen scheinen. 

 

Wir von der Kritischen Medizin fühlen uns oft überfordert und ratlos in Hinblick auf die aktuelle Situation, sowie deren zukünftige Entwicklung. Auf der einen Seite scheint es eine immer größer werdende Zahl von “Querdenkenden” zu geben, die sich in Telegram-Gruppen, auf Youtube-Kanälen, den Straßen oder sogar vor dem Bundestag versammeln, um basierend auf einer nahezu unübersichtlichen Basis von Überzeugungen Kritik an der öffentlichen und politischen Reaktion auf die Corona-Krise zu üben. Zentral dabei ist leider immer mehr auch die völlig verquere Leugnung und Ablehnung der Existenz der Viruserkrankung und deren tödliche Folgen für Betroffene – eine Entwicklung die zutiefst beunruhigend ist. In einer Zeit von Fake News und postfaktischer Politik erscheint es umso wichtiger eine evidenzbasierte und informierte Diskussionskultur zu üben. Auf der anderen Seite besteht eine Atmosphäre von Unsicherheit und Unklarheit. Aufgrund der Flut an neuen Informationen, politischen Richtungswechseln und teils auch offensichtlichen Fehlentscheidungen sinkt das Vertrauen in öffentliche Maßnahmen. So kursieren auch immer mehr Mythen über neue Erkenntnisse zu COVID-19, dessen Ausmaß und der nun etablierten Impfung. Sei es eine Nachbarin, der Mitbewohner, die eigenen Eltern, Arbeitskolleg*innen oder die alte Schulfreundin die gehört, hat dass dies und jenes hätte so laufen müssen, oder eigentlich sei das ja ganz anders und sowieso. Nahezu jede:r von uns hatte in den vergangen Monaten schon eine oder mehrere Diskussionen über den richtigen Ausweg aus der Pandemie, die fraglichen Nebenwirkungen der neuen Impfung und vielem mehr – teils unfreiwillig – führen müssen. Während politische Maßnahmen in einer Demokratie immer Gegenstand des öffentlichen Diskurses waren, sind und sein sollen und in einer pluralen Gesellschaft per definitionem eine Diskrepanz individueller Bedürfnisse herrscht, müssen wir bei der Wissenschaft anders ansetzen. Es gibt nämlich einen wesentlichen Unterschied zwischen Meinung und wissenschaftlicher Aussage. Gerade deshalb erscheint uns Wissenschaftskommunikation brisanter und wichtiger denn je – nicht nur in Hinblick auf die Covid-Pandemie, sondern auch in Hinblick auf die Klimakrise und die weltweit weiterhin zunehmende Schere zwischen Arm und Reich.

 

Auch wenn wir keine geschulten Wissenschaftskommunikator:innen sind, wollen wir einen Versuch wagen, mit einigen Begrifflichkeiten, Aussagen und kursierenden Erkenntnissen aufzuräumen, auf Basis des aktuellen Wissenschaftsstands. Als Menschen mit Bildungsprivileg, das heißt mit Übung in wissenschaftlichem Arbeiten und Zugang zu validen Informationsplattformen und -quellen, tragen wir jedoch eine Verantwortung dieses Privileg zu teilen. Dabei ist es uns im Folgenden wichtig, einige Grundsätze wissenschaftlichen Denkens und Handelns zu vermitteln, zuverlässige Informationsseiten und Projekte vorstellen, aber auch selbst in umfangreichen Recherchen neue Inhalte erlernen, vertiefen und (selbst-)kritisch hinterfragen. Außerdem soll eine Art Werkzeugkasten für eine kritische Auseinandersetzung mit Mythen und klinischen Studien entstehen, der uns und anderen in Diskussionen über Wissenschaft zur Verfügung steht.

Literaturverzeichnis

  1. Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung: Ist die Sieben-Tage-Inzidenz als Indikator der Pandemieentwicklung geeignet? Meldeverzüge verhindern regionale Vergleichbarkeit und sinnvolles Pandemiemanagement. veröffentlicht am 14.01.2021 unter: https://www.zi.de/fileadmin/images/content/PMs/Zi-Paper_Meldeverzuege_14-01-21_FINAL.pdf (zuletzt abgerufen am 10.02.2021)

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