Anatomische Anstalt

In der Anatomischen Anstalt wurden unter der Leitung des Professors für Anatomie Max Clara zwischen 1942 und 1945 die Körper von im Gefängnis München-Stadelheim hingerichteten Häftlingen für Präparierkurse verwendet. Während die Leichname von Hingerichteten die historisch erste legale Quelle von Anatomieleichen darstellen, wurden bis Anfang des 20. Jahrhunderts auch die Körper von marginalisierten und diskriminierten Gruppen (Suizidopfer, verstorbene Gefangene, etc.) aufgrund von entsprechenden Gesetzen an die Anatomien abgeliefert. Um die Leichname Hingerichteter gab es bis in die 1930er Jahre einen regelrechten Wettbewerb unter den Universitäten. Zwischen 1933 und 1945 änderte sich die Leichenbeschaffung der deutschen Anatomien jedoch dramatisch und die zentralen Hinrichtungsstätten des NS-Regimes wurden zur Hauptquelle für anatomische Lehre und Forschung. Für die Münchner Anatomie lässt es sich für die Beschaffung der Körper von NS-Opfern aus zeitgenössischen wissenschaftlichen Publikationen erahnen, dass eine große Anzahl von hingerichteten Häftlingen für die Forschung während des Zweiten Weltkriegs verwendet wurde. Dieses nur indirekte Wissen resultiert aus dem Verschwinden der meisten Münchner Leichenjournale – von denen nur Fragmente im Anatomischen Institut aufgefunden werden konnten und die kleine Teile der Körperbeschaffung zwischen 1933 und 1941 umfassen, meist von Verstorbenen aus den Münchner Krankenhäusern, aber auch die Nennung von zwei Häftlingen, deren Leichen von der zentralen Hinrichtungsstätte im Gefängnis Stadelheim 1937 geliefert wurden.

Die Justizvollzugsanstalt München in der Stadelheimer Straße im Münchner Stadtteil Giesing wurde Ende des 19. Jahrhunderts bezogen und gehört zu den größten Justizvollzugsanstalten in Deutschland. Der Name Stadelheim leitet sich wie der Straßenname vom ehemaligen Gut Stadelheim ab. Insgesamt wurden in Stadelheim mindestens 1049 Gefangene hingerichtet. Der Großteil der Hinrichtungen wurde zwischen 1933 und 1945 ausgeführt, als Stadelheim zusammen mit dem Untersuchungsgefängnis Stuttgart und dem Zuchthaus Bruchsal als „zentrale Hinrichtungsstätte für den Vollstreckungsbezirk VIII“ vorgesehen wurde. Unter den mindestens 1035 Getöteten dieser Zeit waren unter anderem Ernst Röhm und die Mitglieder der Weißen Rose. Graf Arco-Vally, der Mörder des linkssozialistischen Schriftstellers und bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner wurde nach einem Vergeltungsanschlag für die Ermordung Eisners durch den Sozialdemokratenführer Erhard Auer schwer verletzt und am 21. Februar 1919 von Ferdinand Sauerbruch notoperiert. Nachdem Sauerbruch Arco operiert hatte und dessen Entlassung aus dem Krankenhaus und die Herausgabe des zum Tode Verurteilten an die Revolutionäre verweigerte, wurde Sauerbruch von diesen festgenommen und in Haidhausen festgesetzt. Nur knapp entging

er selbst (mit Hilfe des Sohnes einer ehemaligen Patientin) einer Verurteilung zum Tode durch das Revolutionsgericht. Graf Arco wurde in der Zwischenzeit aus der Klinik geholt und gefangen genommen, konnte aber durch Sauerbruchs Oberarzt Jehn in die Psychiatrische Klinik überführt werden, wo er bis zur Zerschlagung der Münchner Räteregierung verborgen gehalten wurde.

Das Münchner Anatomische Institut profitierte in hohem Maße von dem verschärften Justizterror des NS-Regimes während des Zweiten Krieges, der an der Hinrichtungsstätte im Gefängnis Stadelheim durchgesetzt wurde. Obwohl die Anatomische Anstalt in den 1930er Jahren scheinbar keine Probleme hatte genügend Leichen für wissenschaftliche und lehrende Zwecke zu beschaffen, entpuppte sie sich als Hauptnutznießer dieser Dynamik. Insbesondere auch im Vergleich zu den anderen anatomischen Instituten in Erlangen, Innsbruck und Würzburg, die ebenfalls Leichen aus der Hinrichtungsstätte im Gefängnis Stadelheim bezogen (Hildebrandt, 2016). Zunächst war diese Position der günstigen Lage der Münchner Anatomie geschuldet, doch mit der Zeit und vor allem mit den sich verschlechternden logistischen Bedingungen während des Zweiten Weltkriegs, wandelte sich diese privilegierte Position von einer passiven zu einer aktiven Haltung. Der immer stärker werdende Zustrom von Leichen aus der Hinrichtungsstätte Stadelheim festigte die Position der Münchner Anatomie gegenüber den Schwesterinstituten in Erlangen, Würzburg und – in geringerem Maße Innsbruck und machte sie zum zentralen Punkt der Leichenbeschaffung aus Stadelheim, was zu der fast unüberwindlichen Verwirrung über den Verbleib der Leichen nach dem Krieg führte, als die Münchner Leichenjournale verschwunden waren. Dennoch scheint diese massive Zunahme der Beschaffung von Häftlingsleichen aus Stadelheim nie den Wunsch des Instituts befriedigt zu haben, abgesehen von einem kleinen Zeitfenster im Sommer 1943. Doch Max Clara, der berüchtigte NS-Schützling und Leiter der Münchner Anatomie von 1942 bis 1945, bat die Stadelheimer Behörden den Angehörigen von hingerichteten Häftlingen jede Auskunft über das Schicksal der Leichen zu verweigern und trieb stattdessen die eigene Forschung an diesen Leichen bis hin zu Menschenversuchen voran (Noack, 2012; Schütz, 2016; S. 872 f.; Schütz et al., 2014). Darüber hinaus ermöglichte dieser Zustrom einer Medizinstudentin von Clara, die Körper von sechs hingerichteten Häftlingsleichen für die Forschung an ihrer Dissertation zu nutzen (Berger, 1944). Max Clara publizierte zusammen mit seiner Arbeitsgruppe insgesamt 38 wissenschaftliche Arbeiten, in denen er Hingerichtete nutzte. In einer seiner Publikationen wurde dem Verurteilten vor dem Tod eine Tablette Vitamin C verabreicht, um post mortem die Verteilung dieser Substanz histochemisch nachzuweisen. Das Clara zur Verfügung stehende „lebensfrische Material“ erlaubte ihm auch die Beschreibung der noch heute nach ihm benannten bronchiolaren Epithelzellen. Aufgrund seiner nationalsozialistischen Gesinnung wurde Clara nach dem Krieg aus dem Dienst entlassen, im Verlauf als “entnazifiziert” eingestuft und lehrte 1950 bis 1961 Histologie in Istanbul.

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