Von der Selbstbestimmung weit entfernt – Eine Unterhaltung mit einer chilenischen Aktivistin über illegale Abtreibungen in ihrem Land

Chile

 

Unter der Präsidentschaft Michelle Bachellets, wurden 2017 die bisher härtesten Abtreibungsgesetze weltweit als Relikte der Militärdiktatur Pinochets (1973-1990) gelockert. Wo bisher Frauen dazu gezwungen waren, ungeachtet ihres freien Willens, ihrer eigenen Gesundheit oder der ihres Embryos, ihre Schwangerschaft bis zum Geburtszeitpunkt auszutragen, wurden Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche unter drei Ausnahmefällen zugelassen: bei Gefahr für das Leben der Mutter, im Falle eines nicht überlebensfähigen Embryos und bei Vergewaltigung. Diese Regelung, die eine erste Annäherung an die UN-Frauenrechtskonvention von 1979 sein soll, begegnet jedoch nicht den von der Konvention festgelegten reproduktiven Rechten, die von pro-Choice- und Menschenrechtsorganisationen weltweit eingefordert werden: Menschen sollen frei über ihren Körper verfügen können und sich nicht für einen Abbruch rechtfertigen müssen. Sie sollen unabhängig von ihrer Herkunft die bestmögliche Behandlung bekommen und freien Zugang zu Informationen haben.

Laut der Organisation „Human Rights Watch“ im Jahr 2017, trieben jährlich 160.000 Chilen*innen illegal ab. 1Die chilenische Regierung spricht von 33.000 Abbrüchen im Jahr, wobei dies nur die Fälle waren, in denen sich Personen durch Komplikationen des illegalen Abbruchs in ärztliche Behandlung begaben.

In vielen Berichten von Betroffenen, die einen Abbruch durchgeführt haben, wird jedoch schnell klar: In ihrem Fall, hätte auch diese Gesetzesänderung nichts gebracht. Wie auch im Fall meiner Gesprächspartnerin Andrea, einer feministischen Aktivistin aus Valparaíso, die mit 22 Jahren ungewollt schwanger wurde. Damals galt zwar noch das alte Gesetz, aber im Video-Gespräch mit ihr wird deutlich, wie sehr die konservative Gesinnung der Gesellschaft, Gesetzgeber*innen und letztlich auch der Mediziner*innen Betroffene an einer selbstbestimmten Lebensplanung hindern.

Andrea ist Soziologin und Herausgeberin des grass-roots-Magazins „Àvidas yAtorrantes“.

In den ersten beiden Auflagen erzählt sie unter einem Pseudonym von ihrer Erfahrung mit illegaler Abtreibung und wünscht „keiner Frau dieser Welt, derartiges Leid durchmachen zu müssen.“

Ihre Leidensgeschichte beginnt mit einer unglücklichen Beziehung und endet mit dem beiderseitigen Einverständnis, ihre Schwangerschaft zu beenden. Doch mit der Durchführung wird sie von ihrem Partner alleingelassen. In ihrem Bericht wird klar, wie schwer ihr die Entscheidung fiel, die Tabletten einzunehmen. Zerrissen zwischen Schuldgefühlen, Zukunfts- und Todesangst, beginnt sie schließlich die Einnahme. „Ich habe Angst, ich habe Angst… Ich werde NICHT sterben.“ – schreibt sie.

Andrea erzählte mir bereits in einer vorherigen Textnachricht, dass sich eine ihrer Studentinnen mit einer ungewollten Schwangerschaft in der 4./5. Woche an sie gewandt hatte. Nun ging es darum, schnell eine Organisation ausfindig zu machen, die ihr Misoprostol besorgen könnte, was durch die pandemiebedingten Lieferengpässe stark erschwert ist. Misoprostol ist das gängigste, auf dem Schwarzmarkt zugängliche Mittel. Es ist ein Prostaglandinderivat, dass in der Behandlung eines Magengeschwürs die Salzsäureproduktion hemmt oder bei der Geburtseinleitung die nötigen Uteruskontraktionen hervorruft. Der Schwarzmarktpreis liegt bei Schätzungsweise 100-150€, die Verkäufer*innen geben mit Glück die Anweisungen zur Einnahme. Dann kann Mensch nur noch hoffen, dass es auch das richtige Mittel war.

Misoprostol wird zwar auch hierzulande zum medikamentösen Schwangerschaftsabbruch verwendet, allerdings ausschließlich als Kombi-Präparat mit einem vorher eingenommenen Progesteron-Gegenspieler. Das schwangerschaftserhaltende Hormon Progesteron kann nicht mehr wirken, zusätzlich weitet sich der Muttermund und die Schwangerschaft geht ab. Misoprostol wird in diesem Fall danach gegeben, um alle Bestandteile des Schwangerschaftsgewebes durch Kontraktionen der Uterusmuskulatur abzustoßen. Ohne die vorherige Gabe der Progesteron-Antagonisten, wird es sehr schmerzhaft, außerdem kann Gewebe im Uterus verbleiben.
Der medikamentöse Abbruch wird in Deutschland nur bis zur 9. Schwangerschaftswoche durchgeführt. In Chile hingegen, wird Misoprostol bis zur 12. Woche verwendet. Nebenwirkungen sind neben starken Uteruskrämpfen in seltenen Fällen auch Sturzblutungen. Ohne ärztliche Versorgung, wird es dann lebensgefährlich für die Betroffene.

Andrea erklärt mir schließlich Genaueres zum Prozedere der illegalen Abtreibung bei unserem Gespräch: feministische Organisationen unterstützen Betroffene, indem sie ihnen das Mittel kostenfrei zur Verfügung stellen, sie bei der Einnahme weitest gehend psychisch unterstützen. So laufen die Betroffenen nicht Gefahr, sich an unbekannten „Pillen“ zu vergiften, wie es in der Vergangenheit häufig passierte.

Daher frage ich Andrea, wie sie damals die Tabletten einnahm und wie lange die Blutungen andauerten: damals sollte sie eine Tablette einnehmen, 4 weitere Zäpfchen musste sie vaginal anwenden, während der ganzen Zeit half ihr ihre Schwester. Die darauffolgenden Stunden und Tage beschreibt sie als eine Tortur für Körper und Psyche. Leider zähle sie zu den Menschen, die Traumata nicht verdrängten, daher könne sie sich noch sehr gut an die zerreißenden Schmerzen, die Übelkeit und den Schwindel erinnern. „Bis auf vielleicht eine halbe Stunde, in der ich bewusstlos war“, sie lacht verlegen.

„Die neue Dosierungsempfehlung lautet: 2 Tabletten und 2 Zäpfchen“.

Doch auch als nach 2 Wochen die starken Blutungen endlich aufhören und sie währenddessen natürlich auch noch arbeiten gehen musste, ist der Horror noch längst nicht vorbei. Um zu überprüfen, ob sich noch Reste des Schwangerschaftsgewebes in der Uteruswand befinden, die eine Entzündung mit Sepsis und unter Umständen Todesfolge nach sich ziehen können, muss sie in einer gynäkologischen Ambulanz eine intravaginale Ultraschalluntersuchung durchführen lassen. „Wenn die Ärzt*in jetzt etwas bemerkt, kann sie mich anzeigen und ich wandere ins Gefängnis“ schreibt sie in ihrem Bericht. Um die Untersuchung zu erhalten, erfindet sie einen möglichst unauffälligen Grund.

Das Strafmaß für illegale Schwangerschaftsabbrüche geht von Geldstrafen und bis hin zu 5 Jahren Haft.

Anders sieht es allerdings aus, wenn Betroffene zur einflussreichen Oberschicht gehören: „Wenn ungewollt Schwangere das Geld haben, gehen sie in eine Privatklinik, legen das Geld auf den Tisch und lassen die Abtreibung durchführen. Die Ärzt*innen tarnen den Eingriff bei der Abrechnung dann als Blinddarm-OP“. Wer also das Geld und entsprechende Kontakte hat, bleibt straffrei. „Das ist das perfide an unserem Staat – die Konservativen treiben ja auch ab, nur bei uns ist es ein Verbrechen.“

Seit 2017 sind Abtreibungen jetzt unter den bereits genannten Ausnahmefällen erlaubt, die Organisation „Miles Chile“ („Miles“, deutsch: „Tausende“) stellt dafür in Infografiken auf ihrer Website den institutionellen Weg dar und war maßgeblich an der Ausarbeitung des Gesetzesvorschlags von Bachellet beteiligt. Die Sache hat nur mehrere Haken: Die Mediziner*innen dürfen sich auf eine „Dienstverweigerung aus Gewissensgründen“ berufen und den Eingriff damit verweigern. Außer es besteht unmittelbare Gefahr für das Leben der Schwangeren. Und selbst in diesem Fall hat die Organisation Dienstverweigerungen festgestellt. „Gerätst Du an eine Ärzt*in der „Universidad Cathólica“, kannst Du davon ausgehen, dass der Eingriff verweigert wird.“ sagt Andrea.

Ein weiteres Problem, dass sich jetzt in der Pandemie noch stark verschärft hat, ist die sexualisierte Gewalt in Lateinamerika. „Unsere Kultur ist geprägt vom Machismo. Jeden Tag werden jetzt Frauen* hinter verschlossenen Türen vergewaltigt. Für sie gibt es momentan keine Hilfe.“ Normalerweise könnten ein paar von ihnen in selbstorganisierten Frauenhäusern unterkommen, wo sie halbwegs sicher wären und dennoch um ihr Überleben kämpfen müssten, da staatliche Hilfe gänzlich fehlt. „Vergewaltigungen passieren hier wirklich häufig. Erst vor Kurzem wurde ein junges Mädchen direkt vor dem Haus ihrer Großeltern vergewaltigt und getötet. Du kannst dir vorstellen, was hier los war. Wenn so etwas passiert, schließen sich die Feministinnen zusammen und stiften Chaos.“

Auch wenn eine Vergewaltigung mittlerweile ein rechtlich legitimierter Grund für eine Abtreibung wäre, liegt die Anzeigenrate von Vergewaltigungen aus Gründen der Scham und Furcht noch immer sehr niedrig, Tendenz jedoch steigend. Nur 8% der Anzeigen, haben bisher eine Verurteilung der Täter zur Folge.2 Entsprechend schwierig wird hier der Weg durch die Institutionen bis zum Abbruch. Laut “Miles Chile” weigerten sich 47,2% von 1.140 Ärzt*innen, die von ihrem Recht auf Dienstverweigerung Gebrauch machten, im Falle einer Vergewaltigung, den Eingriff nach  dem neuen Gesetz vorzunehmen.

Zusätzlich zu diesen beiden Problemen nennt mir Andrea schließlich noch den Mangel an Informationen rund um das Thema Sexualität. „An den Schulen gibt es keine Sexualkunde. Sex ist ein absolutes Tabuthema in unserer Gesellschaft. Das führt letztlich dazu, dass junge Menschen sich ihre Aufklärung über die Pornografie holen. Dass das allerdings nichts mit realem Sex zu tun hat und noch dazu die Sexualität nur aus der männlichen Perspektive einer Macho-Gesellschaft zeigt, wissen die Jugendlichen natürlich nicht und sie werden mit diesen Bildern geprägt.“ Ein Teufelskreis. Doch sie und ihre Mitstreiter*innen wollen mit einem Workshop-Konzept an Schulen gehen, und das ändern.

Dieser Mangel an Information, sexuelle Gewalt und die zunehmende Armut in der Bevölkerung sind auch für die hohen Zahlen an Jugendschwangerschaften verantwortlich. Auf der Website von „Miles Chile“3finden sich erschreckende Statistiken aus dem Zivil-Register dazu. Daraus geht hervor, dass zwischen 2013 und 2015 zwar die Jugendschwangerschaften insgesamt abgenommen, die Schwangerschaften zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr jedoch zugenommen haben.

Laut Andrea sind schon seit Jahrzehnten die Großmütter die „eigentlichen Mütter“ in diesen Fällen. Wer als Teenager ein Kind bekommt, kann nicht einfach die Schule abbrechen und muss zusätzlich auch arbeiten gehen. Da müssen die Omas einspringen. Das führtoft zu komplizierten Familienverhältnissen, wie Andrea an einem Beispiel erklärt: Ihre jüngere Schwester wurde von der Großmutter aufgezogen, wird aber innerhalb der Familie als Andreas Tante bezeichnet.

Ich frage sie weiter, was ihre konkreten Forderungen an die Regierung wären. „Unsere Chance, liegt in einem sozialen Wandel, vorbei an der Parteipolitik.“ Bei ihrer Regierung, mache es keinen Sinn, direkte Forderungen zu stellen. „Wir müssen viel eher eine Öffentlichkeit schaffen, die Menschen bilden, ihnen Zugang zu Informationen geben. Das ist die Aufgabe von „Àvidas y Atorrantes“. Unser Magazin verteilen wir monatlich kostenlos an verschiedenen öffentlichen Orten, dort wo jede*r Zugang zu ihnen hat. Stell dir mal vor, Gemeindezentren hier stellen ihre Dienstleistungen und Öffnungszeiten für Senioren auf ihre Internetseite. Wie soll denn der Opa von nebenan darauf zugreifen können?“

Andrea will die Menschen zum Lesen animieren, was angesichts der Preise für neue Bücher in Chile, umgerechnet 50€ (bei weitaus geringeren Löhnen), eine große Aufgabe ist. Ihr Magazin, ist dabei der erste Schritt hin zu mehr kritischem Denken, Aufklärung und Autonomie der Person. Außerdem nutzen sie Ihre Präsenz auf den sozialen Medien, einer eigenen Internetseite (https://avidasatorrantes.com/) und in der Erwachsenenbildung. „Das ist viel Arbeit, aber es lohnt sich.“ sagt sie.

Wir reden noch ein wenig über die Inhalte der folgenden Ausgaben ihres Magazins, dann verabschieden wir uns.

Zusammenfassend kann man also über die Lage in Chile sagen, dass die Gesetzesänderung von 2017 zwar ein erster Lichtblick verglichen mit der vorherigen Situation war, aber das Ziel eines Zugangs zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen egal wo, egal wann, egal für wen, noch lange nicht erreicht ist. Doch der Kampf um dieses Ziel ist, dank internationaler Bewegungen, jedoch kein einsamer.

 

 

1 https://www.deutschlandfunk.de/chile-drei-gruende-fuer-eine-abtreibung.886.de.html?dram:article_id=389239

2 https://www.sueddeutsche.de/leben/frauenrechte-chile-lateinamerika-vergewaltigung-mord-1.4708087

3 http://mileschile.cl/en/material/infografias/

 

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