Barrierefreiheit in der Münchner Medizin

eine Fotodokumentation von Antonella Opdensteinen, Nele Guderian, Helene Schricker und Julius Poppel

Die folgende Fotoausstellung stellt unsere erste Beschäftigung mit dem Thema Inklusion in der Medizin dar. Sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist vielmehr als ein Prozess der Auseinandersetzung zu verstehen, denen wir mit Ihnen teilen möchten. Auch wir fordern eine Thematisierung von Behinderung im Medizinstudium. Zudem möchten wir auf die in Deutschland fehlende Chancengleichheit und Inklusion im Medizinstudium aufmerksam machen. Im Rahmen des Entstehungsprozesses haben wir verschiedene ambulante Gesundheitseinrichtungen in München besucht und mit Betroffenen gesprochen. Die dabei entstandenen Gedanken und Eindrücken haben wir versucht in folgendenen Texten und Bildern zum Ausdruck zu bringen.

Ab dem 23.07.2021 ist die Fotoausstellung im Gesundheitsladen in der Astallerstraße 11, München zu sehen.

Zum Jahresende 2019 wurden in Deutschland 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen gezählt, das sind fast 10% der Bevölkerung. In der Bevölkerungsgruppe der über 64 jährigen sind sogar über 25% der Menschen schwerbehindert (Statistisches Bundesamt 2021). Dementsprechend häufig sind daher die Berührungspunkte mit Behinderung, Beeinträchtigung und Barrierefreiheit im medizinischen Alltag. Dennoch findet sich der Themenkomplex Inklusion nicht im Medizinstudium in Deutschland wieder. Es ist also nicht verwunderlich, dass die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung weiterhin mit großen Hürden und Wissenslücken verbunden ist. So beschweren sich Betroffene und Vertreter*innenverbände schon lange und weiterhin, wie beispielsweise am Internationalen Protesttag für Menschen mit Behinderung am 5. Mai 2021 hier in München. Nach der 2015 verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention haben Menschen mit Behinderung ein Recht auf ungehinderten Zugang zur medizinischen Versorgung. Diese ist jedoch aufgrund fehlender Barrierefreiheit häufig schwierig bis unmöglich. Im Gegensatz zu öffentlichen Einrichtungen besteht nämlich für Praxen keine Verpflichtung auf einen barrierefreien Zugang. Dies schließt immer noch viele Betroffene von der Gesundheitsversorgung vor Ort aus. Durch die Covid-Pandemie haben sich diese Bedingungen weiterhin verschlechtert. Frauke Schwaiblmair, Vorsitzende des Behindertenbeirates BBLKM, forderte am Aktionstag: “Medizinisches Fachpersonal muss besser im Umgang mit den unterschiedlichen Bedarfen von Menschen mit Behinderung ausgebildet sein. Und der erhöhte Zeitbedarf muss angemessen honoriert werden!“.



Der Eingang zur Beratungsstelle für Studierende mit Behinderung der medizinischen Fakultät der LMU München in der Pettenkoferstraße 11 ist nicht barrierefrei gestaltet.
Behindertenberatungsstelle der medizinischen Fakultät der LMU München, nicht barrierefrei
In dem Treppenhaus einer orthopädischen Praxis steht am Fußende einer Treppe ein Rollator.
Rollator im Treppenhaus einer nicht-barrierefreien orthopädischen Praxis in Schwabing

Viele bauliche und strukturelle Aspekte einer medizinischen Praxis können für Menschen mit Mobilitätseinschränkung hinderlich sein. Einige der Gegebenheiten lassen sich nicht ganz aus der Welt räumen. So werden nicht ebenerdige Praxisräume immer mittels Aufzug, Rampe oder Rollstuhllift erreichbar bleiben müssen. Auch enge Gänge oder zu schmale Aufzüge können für Rollstuhlfahrer*innen oder Menschen mit Gehhilfen zum Hindernis werden, und können wenn überhaupt nur durch sehr teure Umbaumaßnahmen behoben werden. Dennoch lassen sich einige Vorkehrungen treffen um den Zugang zur Praxis zu erleichtern. Türklinken und Klingeln können beispielsweise rollstuhlnah angebracht werden. Auch Namensschilder und Öffnungszeiten können in doppelter Ausführung auf unterschiedlicher Höhe installiert und beispielsweise auch in Brailleschrift angebracht werden. Eine hohe Theke am Empfang dient zwar zum Teil für Mitarbeiter*innen als Sichtschutz, stellt jedoch auch eine Barriere für Menschen im Rollstuhl dar. Wie unzureichend jedoch die Ausstattung deutscher Praxen ist, zeigte eine Studie der Stiftung Gesundheit. Danach verfügt etwa nur ein Drittel der Praxen über wenigstens eine Vorkehrung der Barrierefreiheit. Die häufigste ist der stufenfreie Zugang. Viele Praxen sind außerdem rollstuhlgerecht, bieten einen Aufzug oder Behindertenparkplätze. Erst auf Platz neun stehen Orientierungshilfen für Sehbehinderte, die 4.820 Ärzt*innen bieten. In München sind mehr als 8.000 Ärzt*innen tätig, dennoch fehlt eine offizielle Angabe zu Barrierefreiheit in ihren Praxen. Der Club Behinderter und Ihrer Freunde e.V. München und Region (CBF) betreibt ein Suchportal für rollstuhlgerechte ärztliche und therapeutische Praxen, in dem 3868 Stellen in München und im Umland für Rollstuhlfahrer*innen infrage kommen.

Vor dem Treppeneingang einer neuropädiatrischen Praxis in Schwabing ist ein elektrischer Rollstuhllift zu sehen. Dieser ist mit einer Plane abgedeckt und vor Regen geschützt,
Rollstuhllift vor einer neuropädiatrischen Praxis in Schwabing
In einem Gebäude mit mehreren Praxen ist ein sehr enger Fahrstuhl.
Ein sehr einger Fahrstuhl
Vor dem Eingang eines gelben Hauses, das mit Efeu bewachsen ist, sind sowohl drei Stufen als auch gegenüber eine Rampe.
Rollstuhlgerechter Zugang mittels Rampe

Für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen gibt es mittlerweile einige digitale Werkzeuge, welche die Verwendung nicht barrierefreier Internetseiten ermöglichen. Dennoch können gewisse Anpassung der eigenen Website den digitalen Zugang deutlich angenehmer und inklusiver gestalten. Eine übersichtliche Seitenstruktur mit Überschriften, Absätzen und Listen sowie eine flexible Darstellung, das heißt die Anpassungsmöglichkeit von Kontrast, Farbe und Textgröße können schon viel bewirken. Zudem bietet es sich an Textalternativen für Nicht-Text-Inhalte wie Bilder zu verfassen, damit Screenreader die Möglichkeit haben diese zu verwenden. Ein etwas aufwändigerer Schritt ist Alternativdarstellung der Website in leichter Sprache. Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass sich digitale Barrierefreiheit nicht nur auf körperliche Einschränkungen wie Blindheit oder Schwerhörigkeit beziehen sollte, sondern auch auf alltägliche Beeinträchtigungen wie zum Beispiel schlechten Empfang, eine laute Umgebung oder die fehlende Möglichkeit, Ton abspielen zu können. Websites und digitale Inhalte sollten einfach und übersichtlich gestaltet sein. Oft ist weniger mehr. Wichtig sind klare und genaue Angaben, insbesondere auch zur Praxisausstattung und Angebot. Besonderen Wert sollte dabei auf die Anfahrtsbeschreibung und den Praxiszugang gelegt werden: in welchem Haus und Stock befinden sich die Räumlichkeiten, wie ist der Zugang gestaltet, wo befinden sich die Parkplätze?

 

Die Homepage der Pfennigparade bietet Möglichkeiten der digitalen Barrierefreiheit, wie die Darstellung der Website in einfacher oder auch Gebärdensprache.
Homepage der Pfennigparade

Für die medizinische Versorgung von Menschen mit Behinderung existiert mittlerweile eine Vielzahl an medizintechnischen Hilfen. Die schon erwähnten baulich- und strukturellen Gegebenheiten wie stufenlose Zugänge, selbstöffnende, breite Türen und geräumige Fahrstühle oder eine rollstuhlgerechte Toilette sind dabei nur der Anfang. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass genügend Sitzgelegenheiten vorhanden sind, hier sind vor allem Stühle mit Armlehnen zum Abstützen gut. Handläufe und Stützgriffe zum Festhalten und rutschhemmender Bodenbelag senkt das Risiko von Stürzen. Außerdem sollte auf Stolperfallen wie Kabel geachtet und bei Bedarf eindeutig markiert werden. Insgesamt sollten schwierige oder wichtige Stellen wie große Glasflächen, Stufen oder Türschwellen in gut lesbarer Schrift beschriftet sein. Ausreichende und blendfreie Beleuchtung und die Verwendung von Brailleschrift unterstützt Menschen mit Sehbeeinträchtigung. Höhenverstellbare und unterfahrbare Behandlungsliegen ermöglichen Menschen im Rollstuhl oder Mobilitätseinschränkungen eine angenehmere Mobilisierung zur Untersuchung oder Behandlung. Ein Hebelift zählt zwar sicherlich zur Sonderausstattung, ist aber je nach Patient*innenkollektiv mittlerweile keine unbezahlbare Anschaffung. Grundsätzlich sollte gelten: Kein Stress beim Praxisbesuch. Zu eng getaktete Termine verursachen Zeitstress und erschweren unter anderem den Zugang.

Im Eingangsbereich einer allgemeinmedizinischen Praxis befindet sich eine hohe Theke.
Theke im Eingangsbereich einer Praxis
Eine nicht höhenverstellbare, orange Untersuchungsliege steht in einem weiteren Raum einer hausärztlichen Praxis.
Eine nicht höhenverstellbare Untersuchungsliege
In einem engen aber lichtdurchfluteten Behandlungszimmer einer allgemeinmedizinischen Praxis steht eine nicht höhenverstellbare Untersuchungsliege.
Enger Behandlungsraum

Mit mangelnder Barrierefreiheit verbinden wir zunächst das Fehlen eines rollstuhlgerechten Zugangs oder ähnliche Einschränkungen für Menschen mit körperlicher Behinderung. Eine Studie zu Barrierefreiheit für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zeigt jedoch auch hier erhebliche Mängel auf. Gemeint sind dabei Menschen, die in ihrer psychischen Gesamtentwicklung und Lernfähigkeit so beeinträchtigt sind, dass sie voraussichtlich lebenslange soziale und pädagogische Unterstützung benötigen. So zeigte sich, dass eine der größten Barrieren der gleichberechtigten Teilhabe am Gesundheitssystem das Fehlen von Informationen über gesundheitsspezifische Fragen, wie beispielsweise über Verhütung, Menstruation und Menopause sowie Brustkrebsvorsorge ist. Weitere Barrieren werden darin gesehen, dass Ärzt:innen, Krankenpflegepersonal und Beratungspersonen nur geringe Erfahrung im Kontakt mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben und es zudem zu wenige Angebote gibt, die sich speziell an diese Personen richten. Außerdem  wird eingeschätzt, dass viele Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen keine Vertrauensperson an ihrer Seite haben, mit der sie gesundheitliche Probleme oder körperliche Auffälligkeiten besprechen könnten. So gehen häufig Symptome unentdeckt oder werden teilweise auf die kognitive Beeinträchtigung zurückgeführt. Dies gilt insbesondere für psychische Erkrankungen. Zu enge oder überfüllte Wartezimmer können für bestimmte Personen anstrengend sein und zur Überforderung führen. Auch komplexe Fragebögen zur Anamnese des gesundheitlichen Zustands können eine Barriere sein. So wird beispielsweise betont, dass Kinder und Jugendliche mit kognitiven Beeinträchtigungen bei Studien zur Gesundheit unterrepräsentiert sind, da keine barrierefreien Erhebungsinstrumente zur Verfügung stehen.



Literaturverzeichnis

Kritische Medizin München © 2024

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