Gesundheit und Krankheit hängen nicht nur vom individuellen Verhalten ab, sondern sind auch von den gesellschaftlichen und sozialen Verhältnissen, in denen Menschen leben stark beeinflusst. Wer arm ist, ist häufiger krank und lebt kürzer. Das heißt für uns, dass Gesundheitsversorgung nicht nur auf einer individuellen Ebene ablaufen soll, sondern auch darauf zielen muss, soziale Verhältnisse und Ungleichheiten nachhaltig zu verbessern. Um diesem Ziel näher zukommen beschäftigen wir uns mit dem Aufbau und dem Betrieb eines solidarischen und multiprofessionellen Gesundheitszentrums in München.  So wollen wir gesundheitlicher Ungleichheit entgegenwirken und für eine gerechte und solidarische Gesellschaft kämpfen.

Was ist eine Poliklinik?

Poliklinik bedeutet wörtlich übersetzt “Stadtkrankenhaus”. Diese Übersetzung wird jedoch nicht ganz der aktuellen Verwendung gerecht. Gemeint ist im Gegensatz zum ursprünglichen Verständnis einer Klinik, eher eine Stadtteil bezogene ambulante Gesundheitsversorgung durch mehrere Fachbereiche. Dabei wird Gesundheit deutlich umfassender verstanden als üblich. Nicht nur die medizinischen Aspekte stehen im Mittelpunkt, sondern die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit werden berücksichtigt. Soziopolitische Faktoren wie hohe Mietpreise, geringes Einkommen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rassismus, Altersarmut, Lärmbelästigung oder Umweltfaktoren wie Hitze beeinflussen die Gesundheit nachweislich stärker als die medizinischen Versorgung alleine. Die Poliklinik agiert in beiden Bereichen. Zum Einen soll durch fachärztliche, psychotherapeutische sowie sozialmedizinische und organisatorische Beratung und Therapie, eine umfassende psychosomatische Betreuung ermöglicht werden. Zum anderen möchten wir Menschen dabei unterstützen, gemeinsame Lösungsstrategien für kollektive und lokale Probleme zu entwickeln. Die Arbeit ist dabei notwendigerweise auch (lokal-)politisch. Grundsätzlich gilt, dass sich die Versorgungspraxis an den Bedürfnissen der Besucher*innen orientiert und mit ihnen gemeinsam entwickelt und im ständigen Austausch ist. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Ökonomisierung des deutschen Gesundheitswesens – im stationären wie ambulanten Sektor — soll eine Poliklinik eine konkrete Alternative zur derzeitigen Versorgungsstruktur werden, in der Profitinteressen keinen Platz haben.

Gibt es schon ähnliche Projekte?

Das Konzept von bedarfsorientierten, stadtteilzentrierten und multiprofessionellen Gesundheitszentren ist nicht neu. Allerdings haben sich in den letzten fünf bis zehn Jahren immer mehr Projekte in ganz Deutschland etabliert. Im Rahmen dieser Entwicklung entstandt auch das Polikliniksyndikat, das ein Zusammenschluss von Projekten ist, die sich den Aufbau und den Betrieb solidarischer Gesundheitszentren zur Aufgabe gemacht hat. Um das Rad nicht immer wieder neu erfinden zu müssen, bietet das Syndikat die Möglichkeit zur Vernetzung sowie zur gegenseitigen Unterstützung und Beratung. Das Polikliniksyndikat besteht derzeit aus fünf aktiven Mitgliedsgruppen:

 

Wie ist der Bedarf in München?

Grundsätzlich ist die (medizinische) Versorgungslage in München, sowie im Rest von Deutschland im internationalen Vergleich auf einem sehr hohen Niveau. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) gilt München sogar als “überversorgt”, mit einem aktuellen Versorgungsgrad von 115% Hausärzt*innen gemessen an der Einwohnerzahl. Doch beim genaueren Hinsehen erscheint diese Behauptung durchaus fragwürdig. Denn wie so oft spielt der Wohnort (und dieser ist bedingt durch das Einkommen) ein entscheidene Rolle im Zugang zu ambulanten Gesundheitsleistungen. Eine ausführliche Recherche der Süddeutschen Zeitung Anfang Januar 2022 offenbart klaffende Unterschiede: Während beispielsweise im Lehel 176 Einwohner*innen auf eine*n Hausa(ä)rzt*in kommen, sind es in Hadern, dem Bezirk mit der ältesten Bevölkerung in der ganzen Stadt, 13 mal so viele, nämlich 2370. Im kindermedizinischen Bereich ist die Ungleichverteilung noch viel extremer: so kommen in Schwabing-Freimann 898 Patient*innen unter 18 Jahren auf eine*n Kindera(ä)rzt*in, in Milbertshofen-Am Hart sind es 11.450. Die Gespräche mit Kommunalpolitiker*innen sind ernüchternd. Das Thema sei seit Jahren bekannt “und es brennt”, sagte Stadträtin Kathrin Abele (SPD) bei einer digitalen Sitzung des Gesundheitsausschusses. Die ungleiche Verteilung der Ärzt*innen sei ein lang bekannter “Missstand”, monierte Alexandra Gaßmann (CSU), es könne nicht sein, dass einzelne Bezirke schlechter aufgestellt seien, einfach nur weil sie am Rand lägen. Als ein “wirklich großes Ärgernis” empfindet die Situation auch der Fraktionsvorsitzende der Linken/Die Partei Stefan Jagel: “Dort, wo es jetzt schon angespannt ist, wird sich die Lage in
Zukunft noch einmal zuspitzen.”

SZ-Karte; Quelle: Geodaten Service München, Statistisches Amt München, Stand: Februar 2021

Wie geht es weiter?

Unsere Projektgruppe ist aktuell in der Findungs- und Planungsphase. Das bedeutet konkret die grundsätzliche Fragen und Eckpunkte einer Poliklinik in München zu klären. Was sind unsere Wünsche? Was sind unsere Kompetenzen und Ressourcen? Welche Strukturen gibt es schon in München? In welcher Rechtsform können wir uns ein solches Projekt vorstellen? Im Rahmen der regelmäßigen Plena der Kritischen Medizin München, sowie in eigenen Gruppentreffen erarbeiten wir im Sommer 2022 diese Punkte. Wenn Du Interesse hast, dann schreibe uns gerne per Mail.

Wo erfahre ich mehr?

Die Robert-Bosch-Stiftung hat 2021 eine umfassende Studie zur Etablierung von Gesundheitszentren in Deutschland veröffentlicht. Dabei modellieren die Autor*innen den zu erwartenden Hausärzt*innenmangel in Deutschland im Jahr 2035 und beschreiben, wie eine Neuausrichtung der Primärversorgung auf kommunal eingebundene Gesundheitszentren eine Perspektive für eine zukunftsfähige Gesundheitsversorgung sein kann – auch angesichts demographischer Herausforderung und der Zunahme chronischer Erkrankungen in der Bevölkerung. Hier findest du mehr.

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